Autonomes Fahren von Lkw und Sattelzügen: Lkw-Trailer denkt - Computer lenkt
Lkw mit 40 Tonnen Gesamtgewicht gehören zum normalen Straßenbild. Aber ohne Fahrer? Gerade im Nutzfahrzeugbereich bietet autonomes Fahren enormes Potenzial, birgt aber auch besondere Risiken. Obwohl Trailer die Fahrdynamik und Zuverlässigkeit des Sattelzugs stark beeinflussen, wurden sie beim Thema autonomes Fahren bislang wenig berücksichtigt. Das Forschungsprojekt „IdenT“ ändert dies. IdenT steht für „Identifikation dynamik- und sicherheitsrelevanter Trailerzustände für automatisiert fahrende Lastkraftwagen“. Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderte Projekt mit einem Gesamtvolumen von 4,7 Millionen Euro läuft noch bis Ende Januar 2023 und soll einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass das Potenzial automatisiert fahrender Lastkraftwagen genutzt werden kann.
Der Transport der Zukunft
Autonomes Fahren von Lkw und Sattelzügen ist eins der aktuellen Themen in der Nutzfahrzeugbranche. Neueste Studien stellen für die Zukunft des Gütertransports auf der Straße eine zunehmende Automatisierung von Funktionen in Aussicht, die langfristig autonom ablaufende Transportprozesse zur Folge haben wird. Daraus resultieren neue, bis dato nicht berücksichtigte Anforderungen an zukünftige Nutzfahrzeuge und deren Komponenten. Bislang stand beim Thema autonomes Fahren in der Regel die Zugmaschine im Mittelpunkt, der Trailer wurde kaum berücksichtigt. Schon seit geraumer Zeit machen sich die Experten bei BPW Gedanken, wie man diese Lücke schließen und die Entwicklung dadurch aktiv mitgestalten kann.
„Wir stellen uns natürlich immer die Frage, was unsere Produkte irgendwann einmal leisten müssen, wenn in der Fahrerkabine kein Fahrer mehr sitzt“, erläutert Dr. Jan-Philipp Kobler, Vorentwickler Mechatronik, die Motivation von BPW.
Mit Kollegen aus den Bereichen Mechatronik sowie Simulation & Versuch betreut er für den Nutzfahrzeugzulieferer das IdenT-Projekt. Zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit und dem Institut für Mechatronische Systeme der Uni Hannover gelang es 2020, starke Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft zu gewinnen, um als Konsortium einen Förderantrag zu stellen.
Ziel des Forschungsprojekts ist der Aufbau und die Erprobung eines IdenT-Systems, das aus einem intelligenten Trailer-Sensornetzwerk, einer cloudbasierten Datenplattform sowie Methoden zur On- und Offlineverarbeitung der Daten besteht. Hierbei erfolgt eine Sensordatenfusion über digitale Zwillinge zur Zustandsbestimmung fahrdynamik- und sicherheitsrelevanter Komponenten, der Trailerdynamik und der Umgebung. Die ermittelten Informationen werden der Zugmaschine zur Verfügung gestellt und dienen so der Unterstützung des autonomen Fahrens.
Ziel der Forschung
Das erste inhaltliche Ziel ist, dass der Trailer fahrdynamikrelevante Informationen für die Zugmaschine bereitstellt. Wie schwer er gerade ist, wo der Schwerpunkt der Ladung liegt, wie die Achslasten verteilt sind: Alle diese Daten sind heute noch nicht verfügbar – aber sie sind relevant, wenn es darum geht, das autonome Fahren sicherer zu machen.
„Muss die Zugmaschine eine autonome Gefahrenbremsung durchführen, sind diese Informationen von großer Bedeutung, denn der Trailer ist viel schwerer als die Zugmaschine und bestimmt damit letztlich, wohin der Zug im Notfall fährt“, erklärt Dr. Kobler die Intention. „Die Analyse dieser Daten liefert außerdem Hinweise auf verrutschende Ladung und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Vermeidung von Transportschäden und zur Erhöhung der Sicherheit des autonomen Gütertransports.“
Der zweite Punkt zielt auf die vorausschauende Instandhaltung, auch Predictive Maintenance genannt, ab. Heute kontrolliert der Fahrer den Zustand des Trailers, künftig muss dies der Trailer selbst tun – eine wichtige Grundvoraussetzung, ohne die das autonome Fahren von Sattelzügen nicht möglich sein wird. Schäden an Reifen, Bremsen, Fahrwerk, Beleuchtung, Aufbau und Ladung müssen zuverlässig und rechtzeitig erkannt werden, um ungeplante Ausfälle und die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zu vermeiden. Idealerweise sollte der Trailer in der Lage sein, Auskunft über Verschleißteile und alle funktions- und sicherheitsrelevanten Komponenten zu geben. Damit wäre es möglich, Werkstattaufenthalte optimal zu planen und somit Stillstand sowie damit verbundene Kosten zu minimieren.
Weitere inhaltliche Ziele des Projekts sind die Rückraumüberwachung, die zum Beispiel für sichere autonome Spurwechsel bei Überholmanövern unerlässlich ist, sowie die Ermittlung und Bereitstellung von Informationen zur Fahrbahnbeschaffenheit, welche die Belastung der Fahrwerkskomponenten maßgeblich bestimmt.
Von der Theorie auf die Straße
Die erfassten Daten werden mit dem IdenT-System gezielt genutzt: Sensordaten werden in Echtzeit von einem mathematischen Modell des Sattelzugs – also einem digitalen Zwilling – ausgewertet und weiterverarbeitet. Während der Fahrt online gesammelte Informationen werden zusätzlich über eine Cloud-Infrastruktur an einen Offline-Zwilling gesendet, der mithilfe detaillierterer Fahrzeugmodelle beispielsweise den Komponentenverschleiß berechnet und dem Online-Zwilling zurückmeldet. „Wir fungieren im Projekt als Systemintegrator und Schnittstelle zu den Endanwendern des IdenT-Systems“, erläutert Dr. Kobler den Beitrag von BPW. „Wichtig ist uns eine kundenzentrierte Entwicklung, die die Anforderungen der Fahrzeughersteller und der Fahrzeugbetreiber immer im Blick hat und sukzessive zur Serienreife führt.“
Auch wenn das Forschungsprojekt noch nicht abgeschlossen ist, wurden bis heute mehr als 250 Gigabyte an Daten auf Testfahrten gesammelt. Diese Datenmenge ist die Basis für die weitere Entwicklung der digitalen Zwillinge. Heute sind Sattelzüge, die ohne Fahrer und damit ohne vorgeschriebene Lenkzeiten rund um die Uhr im Einsatz sind und Zugmaschinen, die wissen, wann Verschleißkomponenten ausgetauscht werden müssen, noch Zukunftsmusik. Forschungsprojekte wie IdenT sogen jedoch dafür, dass autonomer Schwerlastverkehr irgendwann Realität werden kann.
„Bis Lkw und Auflieger komplett ohne Fahrer unterwegs sind, kann es aber durchaus noch 20 Jahre dauern. In der Übergangsphase wird sich nach meiner Einschätzung die Rolle des Fahrers mehr und mehr verändern – hin zu jemandem, der vorne sitzt, sich anderweitigen Aufgaben widmen kann und nur in Ausnahmefällen die Kontrolle übernimmt, ähnlich wie heute die Piloten in Flugzeugen agieren. In geschlossenen Umgebungen abseits der Straßenverkehrsordnung, zum Beispiel auf Betriebshöfen, wird das relativ zügig möglich sein“, so die Einschätzung von Dr. Jan-Philipp Kobler.
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