Köpfe der Branche: Holger Mandel spricht über Konzernpolitik und die Start-up-Szene

Er ist einer der „alten Hasen“ in der Nutzfahrzeugbranche. Nach langen Jahren in verschieden Führungspositionen großer Konzerne hat sich Holger Mandel jetzt der Start-up Branche zugewandt. Die Transformation in eine nachhaltige Zukunft steht für ihn dabei im Fokus.

Holger Mandel: "Innovation heißt für mich auch zu fragen: ‚Was will ich erreichen?‘. Und: ‚Ist die Lösung, die ich heute habe, noch die richtige Lösung?‘" (Foto: H. Mandel)
Holger Mandel: "Innovation heißt für mich auch zu fragen: ‚Was will ich erreichen?‘. Und: ‚Ist die Lösung, die ich heute habe, noch die richtige Lösung?‘" (Foto: H. Mandel)
Christine Harttmann

Herr Mandel, nach vielen Jahren als erfolgreicher Manager in verschiedenen Großkonzernen haben Sie jetzt den Move in die Start-up Szene gewagt. Ein ungewöhnlicher Schritt. Was hat Sie dazu bewogen, in ein so komplett neues Umfeld zu wechseln?

Diese Frage muss man in Abschnitten beantworten. Beruflich hatte ich das große Glück, bei namhaften großen Unternehmen national und international zu arbeiten – jeweils zehn Jahre für Caterpillar, für AB Volvo und für den Volkswagen-Konzern mit dem Schwerpunkt MAN Truck & Bus. Während dieser Zeit durfte ich in unterschiedlichen Funktionen Verantwortung übernehmen und konnte im Einkauf, Verkauf, Aftersales und Financial Services im In- und Ausland mit unterschiedlichsten Kulturen tolle Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen und die vielen Kontakte zu Kollegen und Kolleginnen und Geschäftspartnern formen den heutigen Menschen Holger Mandel.

Dann kommen das Persönliche und die soziale Verantwortung. In meinen letzten Positionen als Vorstand oder als Deutschlandchef mit weit über 5.000 Mitarbeitern war ich quasi sieben Tage pro Woche auf „Tour“ und habe nicht selten 12, 14 oder 16 Stunden am Tag mit viel Leidenschaft gearbeitet und die Unternehmen auch am Abend und am Wochenende auf vielen Veranstaltungen repräsentiert. Die eingefahrenen Erfolge sind das Eine, aber der Preis dafür ist hoch. Irgendwann hatte ich dann fast schon vergessen, dass ich verheiratet bin und eine Familie habe. Also habe ich beschlossen, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen und mich einzubringen, dass die Kinder ihren Start ins Leben optimal gestalten können. Ich habe deswegen bereits beim Abschluss meines letzten Vorstandsvertrages entschieden, dass eine Prolongation nicht in Frage kommt und der nächste Lebensabschnitt nochmals neue Herausforderungen bringen muss.

Aber Sie haben dann ja nicht ganz aufgehört zu arbeiten. Nur Familie reichte dann doch nicht?

Von jetzt auf gleich von 180 auf 0 – das geht natürlich auch nicht, aber heute lässt sich beides verbinden. Ich habe ein weit gespanntes internationales Netzwerk und helfe vielversprechenden jungen Unternehmen, die gute Produkte und/oder Lösungen zu gesellschaftlich drängenden Fragen haben, in den Markt zu kommen und dort Fuß zu fassen. Ich nutze meine über Jahrzehnte gewachsenen Kontakte und bringe Innovation und „Platzhirsche“ zusammen. So kann ich helfen, die große Transformation des Alltagslebens mit zu gestalten. Bei einigen Unternehmen habe ich mich beteiligt, anderen stehe ich mit Rat und Tat zur Seite. Als emphatischer Mensch macht mir das natürlich unglaublich viel Freude, und so kann ich aktiv helfen, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern.

An welchen Kriterien machen Sie fest, ob Sie sich für ein Unternehmen engagieren oder nicht? Jedes Start-up werden Sie ja nicht unterstützen können und wollen.

Das stimmt – und hier muss die Spreu vom Weizen getrennt werden. Ich glaube ganz fest daran, dass ein Unternehmen nur dann erfolgreich sein wird, wenn die entwickelten Produkte oder Lösungen einen Mehrwert für die Kunden und/oder die Gesellschaft schaffen und Antworten geben auf bestehende Probleme und Bedürfnisse. Welche Probleme sollen gelöst werden? Welchen Mehrwert gibt es für den Kunden oder die Gesellschaft? Wie nachhaltig ist die Lösung? Wird ein bestehendes System substituiert oder eine Entwicklung dramatisch revolutioniert? Wird ein Kunde direkt oder indirekt dafür bezahlen? Wenn diese Fragen überzeugend beantwortet werden können und sowohl das positive Bauchgefühl als auch das Vertrauen in die Kreativität und Umsetzungsstärke der handelnden Personen vorhanden ist, helfe ich gerne mit Zeit, Erfahrung und auch situativ mit einem Investment.

Schauen wir einmal auf die unterschiedlichen Geschäftsmodelle. Worin unterscheidet sich denn der internationale Konzern maßgeblich von dem Start-up?

Die großen internationalen und globalen Konzerne müssen ihre Produkte und Lösungen auf einem globalen Spielfeld mit gleichbleibender Qualität anbieten. Um es einmal plastisch zu machen: Es ist wie der Vergleich einer Systemgastronomie zu einem Sternelokal. Die tägliche Arbeit und die Herausforderungen in der Führung der Systemgastronomie sind im Umfang und Inhalt nicht vergleichbar mit dem Inhaber und dem Koch in einem einzelnen Sternelokal, wo der Chef-Cuisine jeden einzelnen Gast am Abend noch persönlich begrüßt.

Im Konzern verbringen Sie sehr viel Zeit in endlosen Budget- und Planungsrunden, Meetings, Abstimmungen und je nach Position in der Konzernpolitik und der internen Kommunikation. Ein Verantwortlicher sagte zu Recht, die Manövrierfähigkeit von großen Tankern, den Konzernen, sei sehr eingeschränkt. Start-ups sind da eher wie kleine Schnellboote. Weniger Komfort, weniger Platz, weniger Passagiere, aber sehr schnell, dynamisch und flexibel. Wir brauchen die großen Tanker für das Volumen, komplexe Logistik, für Finanzkraft und Sicherheit. Aber ein Wettrennen werden Sie nur mit Schnellbooten gewinnen. Je mehr Sie in der Flotte und am Start haben, um so größer ist die Chance, das Wettrennen zu gewinnen. Mein Motto lautet hier seit vielen Jahren: „Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern nur die Schnellen fressen die Langsamen.“

Denken Sie, dass Innovationen in Start-ups grundsätzlich besser gelingen oder hängt das auch davon ab, wie ein großer Konzern agiert?

In einem Konzern ist der finanzielle Hintergrund natürlich ein ganz anderer als in einem Start-up. Und nicht jeder ist gleichermaßen gut aufgestellt, wenn es um die Entwicklung von Innovationen geht. Oft gibt es strukturelle Probleme, die das Zusammenspiel von bestehenden und neuen Geschäftsbereichen behindern. Grundsätzlich ist es aber die Aufgabe der Konzernführung, dafür zu sorgen, dass Innovationsbereitschaft im Konzern vorhanden ist. Er oder sie muss erkennen, welche unterschiedlichen Bedürfnisse Alt und Neu haben und sich danach verhalten. Wie das im Detail funktionieren kann, dafür gibt es viele, sehr verschiedene Konzepte. Entscheidend ist es in jedem Fall, beides ganz klar und konsequent voneinander zu trennen. Während das Eine klare Strukturen braucht, benötigt das Andere große Freiheiten. Kreativität in Leitplanken begrenzt das Spielfeld.

Ich hatte einmal einen Programmierer, mit dem ich sehr gut und konstruktiv zusammengearbeitet habe. Der saß um drei Uhr nachts am Rechner und hat entwickelt, war dafür aber erst ab dem Nachmittag wieder ansprechbar – da gab es viele, die das mit Blick auf Betriebsvereinbarungen und starre Strukturen nicht akzeptieren wollten. Ein Umdenken hier ist für mich auch „Vielfalt“ und sollte den Beteiligten ermöglicht werden. Demgegenüber hat das Start-up den Vorteil, dass es hier nur das Neue gibt. Sie können sich also voll und ganz darauf einstellen und die gesamte Unternehmenskultur entsprechend leben.

In Ihrer Pressemeldung war, mit Blick auf Fernride, von einer To-do-Liste die Rede. Was meinten Sie damit?

Die Idee von Fernride ist es, mithilfe teleoperiertem Fahren autonome Logistik zu verwirklichen. In einer von der Corona-Pandemie geprägten sehr schwierigen Zeit haben junge motivierte Menschen das Unternehmen 2019/2020 gegründet. Zu dieser Zeit entstand diese To-do-Liste, um alle Aspekte der rasanten Entwicklung im Blick zu behalten und stringent umzusetzen. Selbstverständlich wird diese Liste ständig den dynamischen Anforderungen angepasst, aber das Tempo, mit dem das junge Team um Hendrik Kramer die Herausforderungen meistert, ist atemberaubend.

Wichtige Partner wie Krone, DB Schenker oder der Hamburger Hafen sind ins Boot geholt worden. Die Nachfrage aus dem Mittelstand ist riesengroß. Das Team hat aktuell mehr konkrete Anfragen als tatsächlich bearbeitet werden können.

Autonom oder Teleoperiert – ist das nicht ein gewisser Widerspruch?

Sie müssen das teleoperierte Fahren heute nicht als Einzellösung, sondern immer als Teil des Autonomen Fahrens begreifen. Es ist ja heute schon relativ leicht, auf der Autobahn oder von Hub zu Hub autonom zu fahren. Auf einem Trailer Yard oder an der Rampe sind die Herausforderungen wesentlich komplexer. Das teleoperierte Fahren ist sowohl als Vorstufe zum autonomen Fahren als auch als Lösung für komplexe Fahrsituation mit besonderen Herausforderungen zu verstehen. Die gesammelten Daten und Erfahrungen fließen in die Entwicklung des autonomen Fahrens ein und werden zukünftig dafür sorgen, dass der Anteil autonomen Fahrens sukzessive erhöht werden kann. Zugleich braucht alles, was Sie autonom fahren, irgendwann einen manuellen Eingriff. Der Teleoperator kann hier jederzeit eingreifen und bis zu 50 Einheiten gleichzeitig steuern. Insbesondere im Hinblick auf den grassierenden Fahrer- und Fachkräftemangel werden diese Prozesse zu einer Entspannung beitragen.

Zusammen mit Krone wollen Sie auch die Beladung stärker automatisieren. Können Sie dazu ein bisschen was erzählen?

Ja, tatsächlich ist es eine Idee, die Beladungen zu automatisieren. Gerade in der Zusammenarbeit mit Aufbauherstellern sehen wir viele Möglichkeiten. Der Prozess wird sich sukzessive entwickeln. Viele Sekundärprozesse, wie Koppeln, Be- und Entladung, Plane auf oder zu, werden in der Ladungslogistik Schritt für Schritt automatisiert werden und somit effizienter und kostengünstiger.

Transport: Die ganzen Funktionen bei der Be- und Entladung – Plane öffnen, Plane schließen beispielsweise – müssen dann aber auf Knopfdruck funktionieren?

Genau so. Letztendlich müssen diese Tätigkeiten dann nicht mehr händisch gemacht werden. Darauf müssen wir hinarbeiten. Logistik besteht leider nicht nur aus ziehenden und gezogenen Einheiten, sondern aus mannigfaltigen komplexen Prozessen, die automatisierte und effiziente Lösungen verlangen. Wichtig ist also, nicht mehr nur bestehende Dinge zu organisieren. Innovation heißt für mich auch zu fragen: „Was will ich erreichen?“. Und: „Ist die Lösung, die ich heute habe, noch die richtige Lösung?“ Diese Entwicklung verlangt abstraktes Denken abseits der eingefahrenen Wege zusammen mit allen Stakeholdern.

Transport: Und Ihre Aufgabe dabei?

Mein Beitrag ist es, meine über 30-Jährige Berufserfahrung einzubringen, Netzwerke proaktiv zu nutzen. Manchmal benötigt ein Start-up meine grauen Haare, insbesondere wenn es um Überzeugungsarbeit bei Investoren oder Partnerschaften geht.

Welche Antriebsart wird sich durchsetzen?

Ein renommierter Wissenschaftler und Professor hat es faktenbasiert so zusammengefasst: Die Zukunft liegt in modularen, CO2-neutralen, extrem lärm- und schadstoffarmen Antriebskonzepten auf Basis regenerativer Rohstoffe. Dabei müssen die Antriebskonzepte eine Vielzahl von Fahrzeugen und deren spezifische und sehr unterschiedlichen Anforderungsprofile ermöglichen. Die Mobilität und auch die Logistik der Zukunft wird nicht durch ein einzelnes Antriebskonzept erreicht werden, sondern durch eine Vielfalt konkurrierender Konzepte und Kraftstoffe. Diesen Kernaussagen gibt ist nicht hinzuzufügen