Merle Alf: Nachhaltigkeit als zentraler Treiber für neue Geschäftsmodelle in der Logistikindustrie
VisionTransport: Frau Alf, in Ihrer Studie heißt es: „Traditionelle Geschäftsmodelle werden sich aufgrund der Werteverschiebung hin zur Nachhaltigkeit anpassen.“ Pakettransport auf der Schiene ist ein Beispiel. Sehen Sie wirklich eine Werteverschiebung? Oder wollen viele Player nicht eher so lange wie möglich am überkommenen Geschäftsmodell und an der Verbrennertechnik festhalten?
Merle Alf:Ich sehe tatsächlich eine Werteverschiebung hin zu nachhaltigeren Geschäftsmodellen, da Logistiker – nach den Erkenntnissen der Studie – keine Wahl haben. Sie müssen sich anpassen, weil vor allem Kunden und Investoren sie dazu zwingen. Die aktuellen Geschäftsmodelle konzentrieren sich sehr stark auf fossile Energien, die zwar weiterhin noch Bestand haben, aber ihren Ausschließlichkeitsgrad verloren haben.
Zudem sind Kunden verstärkt bereit dazu, Aufpreise für nachhaltige Transporte zu zahlen. Entsprechend spiegelt sich dies im Angebot der Logistiker wider. Beispielsweise ist „Same day delivery“ – von Playern wie Amazon praktiziert – von vielen Endkunden im B2C-Bereich gar nicht unbedingt gewünscht. Stattdessen ist es für viele in Ordnung, wenn erst in drei bis fünf Tagen geliefert wird – dafür aber nachhaltig. Es werden sich gerade auf der letzten Meile viele Logistiker zukünftig zusammenschließen, um effizienter und somit nachhaltiger zu sein.
Eine Möglichkeit für mehr Nachhaltigkeit wäre die Verlagerung auf die Schiene, die aber im großen Maßstab bislang ausgeblieben ist. Was wäre nötig, um sie anzuschieben?
Tatsächlich ist sie bislang ausgeblieben. Noch werden nur rund 20 Prozent der Cargosendungen auf der Schiene transportiert. Das liegt daran, dass die Verladungsprozesse von Lkw auf Bahn noch nicht optimal funktionieren und die Infrastruktur im Gesamten nicht überall verfügbar ist. Wie Sie schon sagen: Das Bahnsystem ist noch nicht vollständig auf die Verlagerung vo rbereitet. Dabei sieht der Masterplan Schienenverkehr vor, bis 2030 rund 25 Prozent des Güterverkehrs auf die Schiene zu verlagern. Lohnender wird es aber erst ab höheren Volumina, wenn sich zudem Skaleneffekte einstellen.
Beispielsweise DHL und DB Cargo arbeiten zusammen, um das Schienenverkehrsnetz auszubauen. Mit der DHL-App können Endkunden auswählen, ob ihr Paket mit der Bahn verschickt werden soll – ohne Aufpreis. Von solchen Modellen müsste es künftig noch mehr geben. Es mangelt insgesamt aber auch noch an der Wertschätzung der Endkunden für CO2-freundliche Transporte auf der Schiene. Es fehlt zudem an der notwendigen Vermarktung.
2030 ist ein knapper Zeithorizont…
Das stimmt. Aber Logistiker können nicht nur darauf warten, dass die Politik entsprechende Maßnahmen trifft, um die 25-Prozent-Marke zu erreichen. Auch sie können natürlich aktiv werden.
Ihre Studie spricht von einer Kreislaufwirtschaft, vor allem im Sinne einer Rückführung von Verpackungen und Ladehilfsmitteln. Welche Ansätze dafür konnten Sie bislang beobachten? In den Jahren gerade zwischen 1997 bis 2017 ist der Verbrauch an Verpackungen ja eher sehr deutlich gestiegen.
Leider steigt der Bedarf an Verpackungen immer noch. An diesem Punkt steht die Logistikwirtschaft immer noch ganz am Anfang. Es gibt zwar schon einzelne gute Ansätze, aber noch nicht in der Breite und noch nicht skaliert. Allerdings muss man zwischen den verschiedenen Logistiksparten differenzieren. Beispielsweise ist die Kontraktlogistik schon relativ weit, unter anderem mit einigen Kooperationen in Form von Leergutkonzepten zwischen Kontraktlogistikern und OEMs, um Verpackungen zurückzuführen. Ansätze gibt es auch im KEP-Bereich, zum Beispiel in Form von Pfandsystemen für Pakete. Die meisten sind in der Vergangenheit aber leider gescheitert – vor allem am Faktor Convenience.
Nur wenige Konsumenten möchten Pakete zu Hause sammeln oder haben dafür Platz. Außerdem ist es lästig sie zurückzugeben, und viele davon werden während des gesamten Prozesses beschädigt. Im Cargobereich gibt es natürlich seit vielen Jahrzehnten standardisierte wiederverwendbare Ladungsträger wie den ISO-Container oder die Europalette. Einzelne Logistiker haben bereits eigene Tochterunternehmen nur zum Thema Circular Economy gegründet, die Geräte – beispielsweise aus dem Medizinbereich – zurücknehmen, reparieren und wiederverkaufen.
Was wäre notwendig, gerade vonseiten der Politik, um die Kreislaufwirtschaft zu forcieren?
Sie kann natürlich Anreizziele für Logistiker setzen. Aber im Endeffekt müssen Letztere das Ganze vorantreiben und zusammenarbeiten, um Standardisierungen zu schaffen.
Kann ein künftiger Personalmangel den zarten Blüten von Kreislaufwirtschaft und neuen Geschäftsmodellen zusätzlich schaden? Welche Lösungen können helfen?
Aus meiner Sicht sind die drei großen Hebel für die Bekämpfung von Personalmangel Automatisierung, Erhöhung der Attraktivität der Branche und Zuwanderung. Automatisierung hat dabei das größte Potenzial. Sie könnte theoretisch 45 bis 60 Prozent der Jobs bis 2030 auffangen. So lassen sich beispielsweise einfache Tätigkeiten im Lager wie Etikettieren, Verpacken, Palettieren oder Kommissionieren weitestgehend automatisieren.
An autonomes Fahren auf öffentlichen Straßen glaube ich zwar in naher Zukunft nicht, dafür aber an die Umsetzung in der Intralogistik, um Personalmangel entgegenzuwirken. Zum zweiten von mir angesprochenen Punkt, der Erhöhung der Branchenattraktivität: Ein Studienteilnehmer hat gesagt, man müsse „die Logistik aus dem Schmuddelimage herausholen“. Das bringt es aus meiner Sicht auf den Punkt. Denn viele Menschen wollen nicht in der Logistik arbeiten, unter anderem wegen schlechter Arbeitsbedingungen. Wenn es gelingt, das Image nachhaltig zu wandeln, dann kann man Mitarbeitende auch aus anderen Branchen gewinnen.
Leider ist die Logistik nicht für gute Bezahlung bekannt. Die Lohnentwicklung war in der Vergangenheit unterdurchschnittlich und lag nur bei 1,64 Prozent jährlichem Anstieg zwischen 2007 und 2019, das liegt noch unter der durchschnittlichen Inflation. In dem Punkt muss die Logistikindustrie nachziehen. Und sie muss neue Arbeitsmodelle anbieten.
Ein Logistiker in der Schweiz hat beispielsweise seinen Fuhrbetrieb auf die Vier-Tage-Woche umgestellt und lässt seine Fahrer in Hotels übernachten. Andere Möglichkeiten sind die Forcierung von Ausbildung oder Kooperationen mit Hochschulen, die die von uns befragten Logistikunternehmen verstärken. Aber auch das dauert und ist keine kurzfristige Lösung für Personalmangel. Und dieser wird sich in den nächsten Jahren leider verstärken.
Und wie kann die Zuwanderung dazu beitragen, den Personalmangel zu entschärfen?
Ohne Zuwanderung wird sich das Problem nicht lösen lassen – generell in Deutschland, aber speziell in der Logistikindustrie. Es gilt, gezielt auch Menschen im Ausland anzusprechen – auch an Hochschulen, zum Beispiel im Bereich Informatik und Data Analytics. Und es müssen Sprachbarrieren abgebaut werden, indem zum Beispiel ganz simpel Arbeitsanweisungen auch in englischer Sprache angeboten werden. Deutsch muss auch nicht die Voraussetzung für die Einstellung eines Lagerarbeiters sein. Das kann bis dahin reichen, als Unternehmenssprache Englisch einzuführen.
Anderes Thema: Die letzte Meile in den Innenstädten wird deutlich teurer und aus Nachhaltigkeitsgründen zunehmend strenger reguliert, heißt es in der Studie. Gleichzeitig werden „technologische Entwicklungen und strukturelle Ansätze die letzte Meile grundlegend verändern“. Wie passt beides zusammen?
Schon heute ist die letzte Meile sehr teuer, sie macht im Schnitt rund 77 Prozent der Transportkosten einer Sendung aus – Tendenz steigend. Hinzu kommen die vielen Regulierungen, zum Beispiel Fahrverbote in den Innenstädten, die gerade KEP-Dienstleistern die Arbeit erschweren.
Schon aus diesen Erwägungen und Entwicklungen bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die letzte Meile neu zu organisieren, veränderte strukturelle Ansätze zu wählen und auch innovativer zu werden – und besser zusammenzuarbeiten. Sie kennen das ja selbst: Morgens kommt DHL, später Amazon und dann auch noch DPD. Alle müssen anfahren, klingeln, warten, durch dieselben Hausflure laufen. Dementsprechend könnten die Regulierungen sogar dazu führen, dass die KEP-Dienstleister gezwungen sind zu handeln und zusammenzuarbeiten.
In Wien gibt es eine neue Initiative, die heißt „Nachhaltige Logistik 2030+ Niederösterreich-Wien“. Hier arbeiten Land, Stadt, Wirtschaftskammer und Industrievertreter zusammen, um die Logistik effizienter zu gestalten, zum Beispiel in Form gemeinsamer Paketboxen. Es bringt dementsprechend wenig, wenn ein einzelner KEP-Dienstleister ein solches Thema für sich angeht, sondern es kann nur zusammen mit der Stadt und Kommune sowie anderen Dienstleistern funktionieren.
In manchen Häusern mit zehn oder 20 Wohneinheiten gibt es bereits große gemeinsame Briefkästen für Pakete, die Hermes, GLS, UPS, Amazon oder DHL bedienen können. Das erhöht nicht nur die Zustellquote, sondern verringert auch Wartezeiten und Wege innerhalb des Hauses. An solchen Modellen der Zusammenarbeit müssen die KEP-Dienstleister noch viel mehr arbeiten – und Micro-Hubs zur Zwischenlagerung nutzen, zum Beispiel Parkhäuser, oder Lastenfahrräder verwenden.
In der Studie heißt es: „Steigende Kosten machen eine stärkere Differenzierung der Leistungsqualität und des Preises notwendig.“ Können Sie dies erläutern?
Die Logistiker kämpfen durchweg mit steigenden Kosten – insbesondere durch erhöhte Energie- und Personalkosten. Das kann nicht eins zu eins auf die Kunden umgelegt werden, weil auch die Zahlungsbereitschaft fehlt. Daher wird es mehr Differenzierung in der Leistung geben – beispielsweise bei der Versandgeschwindigkeit oder beim Verkehrsträger der Lieferung. Oder es wird in Zukunft nicht mehr als Standard nach Hause geliefert, sondern nur noch an Packstationen. In einem solchen Modell kostet die Direktlieferung extra. Oder dass unterschiedliche Lieferzeitfenster auch unterschiedliche Preise haben werden.
Dynamic Pricing gibt es in der Luftfahrt schon lange, Pakete kosten heute immer noch das Gleiche, egal wie hoch die Nachfrage ist. Von solchen Differenzierungsmerkmalen können und müssen Logistiker auch profitieren. Ein Interviewteilnehmer war der Meinung, dass Qualität, Nachhaltigkeit und Innovation die drei substanziellen Faktoren werden – und nicht mehr der Preis alleine.
Merle Alf ist Senior Project Manager bei Horváth im Competence Center Transportation, Travel & Logistics. Sie hat die Studie „Corporate Transformation in der Transport-und Logistikindustrie“ geleitet. Dazu wurden mehr als 25 Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft in persönlichen Interviews zu den wichtigsten Branchentrends befragt, darunter Topführungskräfte und Strategen großer Logistik- und Transportunternehmen, wie DB Cargo, DB Schenker, DPD, Hapag-Lloyd, Hermes, Lufthansa Cargo oder Post CH.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Magazin VISION TRANSPORT Ausgabe 2023 veröffentlicht.
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