Disruption à la Amazon

Der Onlinegigant will die Pariser Klimaziele zehn Jahre früher erfüllen. Im Fuhrpark sollen dabei E-Vans des US-Start-ups Rivian helfen. Bei der Firma stieg just auch Ford ein. Was heißt das für die Kooperation mit VW? Weitere US-Firmen drängen.

Foto: Hersteller
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Redaktion (allg.)

Den Stein ins Rollen brachte Jeff Bezos, der ambitionierte Chef des Onlinehändlers: Amazon wird Großkunde bei Rivian. Wer sich jetzt fragt: „Bitte, wer oder was ist das?“, der sollte sich den Namen merken. Bis 2030 sollen sage und schreibe 100.000 E-Transporter des ehrgeizigen Unternehmens aus Plymouth/Michigan bei Amazon laufen, die ersten 10.000 bereits bis 2022. Stückzahlen, von denen StreetScooter hierzulande nur träumen konnte, und überhaupt der größte Auftrag im Bereich E-Mobilität, den es je gab.
Wobei sich Amazon wohl auch direkt an der US-Firma, die weitere Werke in San José, Irvine, Carson, Normal und Woking besitzt, beteiligt: In der letzten Finanzierungsrunde von 700 Millionen Dollar sollen 440 Millionen von Amazon gekommen sein. Rivian enwickelt seit elf Jahren an einem Elektro-Pick-up sowie SUV mit 650+ Kilometer Reichweite auf einer modularen Elektro-Plattform („Skateboard“) und schickt sich an, Teslas Fährte aufzunehmen, um den Kaliforniern zumindest im Bereich Pick-ups Konkurrenz zu machen. Überhaupt: Im Hintergrund dürfte die ausgeprägte Rivalität der beiden visionären Alphatiere Jeff Bezos, Amazon-Chef und reichster Mann des Planeten, sowie Elon Musk, Mobilitätspunk, Selbstdarsteller, Fundraiser und Disruptor (siehe Kasten S. 23), eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen.
Mit dem Großauftrag alleine jedenfalls katapultiert es das für automobile Maßstäbe immer noch sehr junge Unternehmen rund um den Gründer und CEO Robert „RJ“ Scaringe in die erste Liga. Scaringe erwarb einst am Massachusetts Institute of Technology seine Meriten in „Mechanical Engineering“, führte das Unternehmen durch alle finanziellen Fährnisse bis kurz vor den für Ende 2020 avisierten Marktstart der verschwisterten Modelle R1T und das SUV R1S und verweist auf große Erfahrungen im Handling von hochkomplexen Systemen. Diese Fähigkeiten kann er gut gebrauchen.
Denn im April stieg ein weiterer sehr prominenter Player ein: Kein geringerer als der Autokonzern Ford beteiligt sich mit 500 Millionen US-Dollar an dem Unternehmen. Zuletzt sprangen von Black Rock gemanagte Fonds um T. Rowe Price mit 1,3 Milliarden auf, unter denen wiederum Ford und Amazon beteiligt sein sollen. Auch Cox Automotive war im September mit 350 Millionen US-Dollar dabei. Insgesamt soll die Firma, die die Investoren-Phantasie beflügelt, bisher laut Bloomberg 2,85 Milliarden Dollar eingesammelt haben. Eine Milliarde braucht es üblicherweise, um ein Fahrzeug zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.

Energie- und Mobilitätswende

Noch im Februar 2019 beteuerte Rivian- CEO Scaringe, dass sein Unternehmen unabhängig bleibe. Erste Rivian-Vans sollen ab 2021 elektrisch die Amazon-Pakete an erste Kunden ausliefern. Bis 2030 sollen damit jährlich vier Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Hinter den Kulissen macht Amazon-Boss Bezos Druck: Er will Größe und Skaleneffekte nutzen, „um einen wirklichen Unterschied zu machen“, wie er sagt. Amazon plant, die eigene globale Infrastruktur mit 100 Prozent erneuerbarer Energie zu versorgen. Außerdem sollen bis 2030 die Hälfte der Pakete klimaneutral verschickt werden. Amazon verpflichtet sich mit der Zusage zu „Climate Pledge“, bis 2024 dann 80 Prozent erneuerbare Energien und bis 2030 100 Prozent erneuerbare Energien auf seinem Weg zum Netto-Null-Kohlenstoffgehalt bis 2040 zu erreichen. Wie auch immer: Für den neuen Kooperationspartner Volkswagen muss die kaum verhehlte und sukzessive aufgestockte Beteiligung von Ford an Rivian wie ein Stoß vor den Kopf anmuten. Hat man doch eigentlich vereinbart, dass Ford in Sachen elektrischer Premium-Mobilität auf den „Modularen Elektrobaukasten“ (MEB) des deutschen Konzerns zurückgreift. Und nun? Das im November avisierte elektrische SUV der Nobel-Tochter Lincoln auf Rivian-Basis wurde zwar wegen der Coronakrise verworfen und soll jetzt wie der F-150 auf einer eigenen Plattform fußen. Dafür zieht Bill Fords Tochter Alexandra Ford English in den Rivian-Vorstand ein und festigt die Verbindung weiter. So oder so wäre der MEB, auf dessen Basis VW gerade den SUV ID.4 zeigte und auf dem der VW ID. Buzz basiert, für Ford außer bei kleineren Fahrzeugen obsolet.
Gepasst hätte die Rivian-Basis für Ford durchaus. Die Fahrzeuge sind gefällig gestaltet, der R1T ist ein 5,50 Meter langer und zwei Meter breiter Pick-up, der R1S ein 5,09 Meter langer SUV, bei einem lang gestreckten Radstand von 3,45 Metern. Wobei: In Relation zu einem F-150 wirkt das eher zierlich. Beide verfügen über einen Allradantrieb mit vier elektrischen Radnabenmotoren mit je bis zu 200 PS. Das alles auf Basis des superschlanken „Skateboards“ mit Einzelradaufhängung und hydraulischer Fahrwerksregelung, die das Chassis von 20 auf 35 Zentimeter anheben kann. Auch die für die Vorlieben des US-Marktes konzipierte Anhängelast von fünf Tonnen imponiert. Besonders stolz ist man in Plymouth aber auf das komplett bündig in den Rahmen versenkte und massiv geschützte Lithium-Ionen-Akkupaket mit dem modularen Aufbau zu 105, 135 und 180 kWh Kapazität. 650 Kilometer „plus“ soll man mindestens damit weit kommen, oder wie es im Teaser heißt: San Francisco – Yosemite-Nationalpark und zurück. Es soll sich dank ausgeklügeltem Batteriemanagementsystem an die Fahr- und Ladeweise des Besitzers anpassen, was die Lebensdauer der Speicher verlängert. Obligatorisch ist zudem ein Fahrerassistenzpaket bereits auf dem teilautomatisierten Level 3 des autonomen Fahrens, mit einem Sensorpaket aus Kamera, Radar, Lidar und Ultraschall sowie GPS-Ortung. Auch die gesamte elektronische Ethernet-Architektur ist zeitgemäß cloudbasiert und voll konnektiv, im Interieur gesteuert über ein TFT-Screen-Instrument vor dem Lenkrad sowie einem weiteren riesigen Touchscreen mittig, selbst so groß wie ein Skateboard.

Herunterskaliert ein heißer Preis

Auch wenn man solche Reichweiten für den Van-Ableger nicht bräuchte, skaliert man die Akkukapazität einmal herunter auf etwa 60 kWh, ergäbe sich eine Reichweite von gut 200 Kilometern, mehr als genug für ein KEP-Zustellfahrzeug. Selbst 100 Kilometer würden hier genügen, mit entsprechendem Effekt auf den Preis. Und da wird die Story dann ganz heiß: Denn der Pick-up R1T ist in den USA mit 69.000 Dollar angekündigt. Nimmt man nun an, dass die Akkus das teuerste Bauteil sind und ein Transporter nur zwei der vier MoMotoren bräuchte, bevorzugt an der Vorderachse, und man sich all den Luxus im Interieur spart, dann ist man irgendwo in der Region um die 50.000 bis 60.000 Euro für ein voll ausgestattetes, vollelektrisches Zustellfahrzeug mit schätzungsweise 25 bis 30 Kubikmeter-Kofferaufbau.
Die große Frage ist, ob Ford dann die eigenen Elektrifizierungspläne, die sich bereits in einem fahrbereiten Prototypen des Transit Electric manifestierten und sich jetzt auf 2022/23 verschoben haben, völlig über den Haufen geworfen werden – gleich mit etwaigen Übernahmeplänen der MEB-Plattform. Diese beansprucht aus Sicht von VW-Chef Diess ja auch nicht weniger, als den neuen Industriestandard zu bilden und soll frei für andere Anbieter verfügbar werden. Man darf im wahrsten Sinne des Wortes „gespannt“ sein, wie sich die Karten auch nach der Coronakrise neu mischen. Denn gewiss ist: Der Kostendruck ist dann noch höher geworden.