Mit etwas Ironie betrachtet haben sich Digitalisierung und Zeitgeist einander stark angenähert. Fast scheint es, als wären sie eine Symbiose eingegangen. In der IT reduzieren selbst die komplexesten Software- Lösungen sämtliche Aufgaben früher oder später auf Nullen und Einsen – die einzig zulässigen Werte in der digitalen Grundeinheit Bit. Ganz ähnlich verfährt auch der Zeitgeist, wenn er gesellschaftliche oder weltpolitische Zusammenhänge auf gut oder böse, schwarz oder weiß, Segen oder Fluch reduziert. Insofern ist es konsequent, wenn es bei der Diskussion um die Digitalisierung der Logistik oft ebenfalls nur um „machbar“ oder „illusorisch“ geht. Das sind jedenfalls die typischen Extrempole, wenn es um das Modell der digitalen Spedition geht.
Tradition gegen Moderne?
Für Traditionalisten ist es Gesetz, dass der Transport von Gütern nur eine Service- Dienstleistung sein kann, für die es unbedingt persönliche Kontakte braucht. Wer in diesem Bereich zu viel automatisiert, riskiert sein Geschäft – so lautet ihr Credo. Die Progressiven hingegen sehen in jedem manuellen Arbeitsgang ein Effizienzrisiko und empfinden die klassische Spedition als Inbegriff eines teuren Chaos. Extrem gedacht kann bestenfalls eine der beiden Gruppen recht haben.
Um das nachzuvollziehen, hilft ein Faktencheck: Was macht eine digitale Spedition aus? Und wie unterscheidet sie sich von ihren „klassischen“ Pendants?
Maximal ausgelegt treibt die digitale Spedition das schon im Handelsgesetzbuch beschriebene Geschäftsmodell „Spedition“ auf die Spitze. Sie besorgt den Versand der Güter, verzichtet auf jegliche Assets, hat weder einen Fuhrpark noch eine Umschlaghalle und auch nicht zahlreiche kaufmännische Angestellte. Stattdessen nutzt sie hochentwickelte IT-Systeme und setzt auf extrem standardisierte, weitestgehend automatisierte Prozesse.
Ein hocheffizientes Geschäftsmodell also, das – so die nächste radikale These – nur als Neugründung aus dem Nichts möglich ist, gewissermaßen ohne Altlasten, wie manuell geprägte Prozesse, zusammengewürfelte heterogene IT-Systeme und schlechte Datenqualität. Denn es dürfte keinem traditionellen Unternehmen gelingen, sich so vollständig neu zu erfinden, dass es alle bestehenden Prozesse, bestenfalls halbautomatischen IT-Systeme und Mitarbeitergewohnheiten aus jahrzehntelanger Erfahrung vollständig über Bord wirft.
„Gut so“, werden die Traditionalisten sagen. Wo bleibt da schließlich der Kundenservice? Aber gerade in diesem Bereich können die digitalen Speditionen besonders punkten. Sorgen sie doch mit ihrem modernen IT-System für durchgängig transparente Informationen und vermitteln Transportanfragen direkt sowie zuverlässig an Frachtführer mit freiem Laderaum.
Transparenz als Argument
Digitale Speditionen verkaufen Transparenz, haben die kaufmännischen Prozessemaximal digitalisiert und reduzieren die administrativen Kosten, so stark es eben geht. So erzielen sie Effizienzvorteile, die sie auch weitergeben – über den Preis und mit Lösungen, die einfach bequem für den Kunden sind.
In Kennzahlen gedacht, hängen sie die klassischen Speditionen bei der Anzahl bearbeiteter Sendungen pro Mitarbeiter deutlich ab. Und ihnen gelingt es besser, die Komplexität globaler Transportketten mit wechselnden Beteiligten zu bewältigen. Schließlich sind sie über leistungsstarke IT-Systeme und Plattformen mit den an der Lieferkette Beteiligten deutlich besser vernetzt, können Preis- oder Transportanfragen rasch und automatisch beantworten. Sie koordinieren und überwachen Transporte nahezu vollautomatisch und eliminieren so fast alle manuellen oder persönlichen Kontakte.
Über ihre kundenfreundlichen Plattformen können sie Geschäfte einfacher abschließen. Noch dazu verbessern sie gewissermaßen nebenbei die Auslastung von Transportkapazitäten und optimieren die Routen. Für beides nutzen sie Künstliche Intelligenz und ausgefeilte Algorithmen – sowohl um die Kundennachfrage bestmöglich vorhersehen zu können als auch, um Staus zu vermeiden und so jeweils die Stoppdichte weiter zu maximieren.
Ketzerisch gesprochen, können die klassischen Speditionen mit dieser extremen Effizienz nur über das Know-how ihrer Mitarbeiter, langfristig gewachsene emotionale Kundenbeziehungen sowie ein Quäntchen Intransparenz konkurrieren. Inzwischen kommt es durchaus häufiger vor, dass sie über Nebengebühren für Sonderleistungen höhere Profite erzielen als mit den eigentlichen Frachtraten. Denn wer kann als Kunde schon wirklich nachvollziehen, worin aufpreispflichtige Sonderfälle bestehen?
Die Stunde der Tradition
Wer jetzt schon die Überlegenheit der digitalen Spedition im Wettbewerb mit ihren klassischen Pendants postulieren möchte, der zuckt jedoch zu früh. Denn bei der Durchführung der Transporte schlägt die Stunde der traditionellen Spediteure mit ihrer straffen Organisation und großen Erfahrung – in Systemkooperationen gilt das oft sogar unternehmensübergreifend.
Mit einem jahrzehntelang gepflegten effizienten Qualitätsmanagement und entsprechenden Kundenbeziehungen verfügen diese klassischen Speditionen bei der Kernleistung über operative Vorteile und robustere Strukturen. Ihr systematisches Lieferanten- und Partnermanagement hat einheitliche hohe Leistungsstandards durchgesetzt und so die Basis für ein solides Kostengerüst gelegt.
Paradoxerweise sind die klassischen Speditionen bei der Digitalisierung der operativen Prozesse sogar oft schon weiter vorgedrungen. Kunden- und Lieferantenportale, Kooperationsplattformen und die auftragsbezogene Verwertung von Telematikdaten aus den Fahrzeugen in den speditionellen Geschäftsprozessen manifestieren ihre operativen Vorteile. Wenn digitale Speditionen auf diesem Gebiet eine ernsthafte Konkurrenz sein wollen, sind sie auf die Leistungsfähigkeit und Qualität ihrer Frachtführer angewiesen. Denn über dieselben professionellen Strukturen verfügen sie selbst noch nicht.
Auch im Vertrieb verspüren digitale Speditionen die Nachteile ihrer oft noch jungen Marktpräsenz und schlanken Organisation, solange sie die kritische Masse für ihre Plattform noch nicht erreicht haben. Die digitale Spedition gewinnt also zwar den Wettbewerb um die effizientere Administration um Längen. Aber in der Operativen sieht sie nur die Rückleuchten der klassischen Spediteure. Wer entscheidet in dieser Konstellation die Zukunft für sich? Im darwinschen Sinne möchte man antworten, dass es derjenige sein wird, der schneller vom anderen lernt. Denn beide können natürlich von den Stärken des jeweils anderen profitieren. Deshalb lohnt es sich, miteinander zu kooperieren und eben kein Feindbild voneinander aufzubauen.
Wer Daten hat, hat Macht
Die digitale Transformation erhöht in jedem Fall auf beiden Seiten den Druck zur Konvergenz – also der Angleichung von Organisation und Geschäftsmodell. Im Sinne des Zeitgeists könnte es dennoch schwierig werden, denn verlieren werden sie langfristig beide. Künftig hat die Oberhand, wer über Daten und Kontakte verfügt – bei Kunden und Anbietern. Deshalb laufen die digitalen Speditionen Gefahr, von den ganz großen globalen IT-Plattformen und Informationsanbietern aus dem Markt gedrängt zu werden. Und den klassischen Spediteuren dürften beispielsweise die Hersteller der Transportmittel Kunden abjagen.
So gelangen etwa Fahrzeughersteller über ihr Kerngeschäft sowie daraus gewonnene Bewegungsdaten an Informationen, die sie für neue Geschäftsmodelle in der Transportlogistik verwenden können. Gleichzeitig stehen sie vor dem Durchbruch autonomer Lkw und Transporte. Die Kombination aus IT und Informationen, verbunden mit den Assets – oder umgekehrt – macht künftig also den bei Weitem größten Teil des Geschäfts aus. Und mit der zunehmenden Digitalisierung der logistischen Prozesse halten digitale wie klassische Speditionen gleichermaßen diesen Big Playern den Steigbügel – zumindest für das Standardgeschäft.
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